Die Glosse im Guller
Wer ohne Makel ist, der säge am ersten Ast
Nein, es war sicher kein bösartiges Täuschungsmanöver der Verkäuferin. Die Wahrheit ist: Ich habe ganz einfach nicht richtig hingeschaut. Das lag daran, dass ich zur Arbeit musste, für die Jahreszeit nicht warm genug angezogen war und fror sowie das Ganze schnell hinter mich bringen wollte. Deshalb erklärte ich kurzentschlossen: "Den da nehmen wir!"
Das Ausmaß der Fehlentscheidung wurde mir mit ernster Miene am Abend präsentiert. Der Mann, mit dem ich Tisch und Bett, aber nicht die strengen Anforderungen an die Symmetrie von Weihnachtsbäumen teile, hatte das gute Stück im Ständer fixiert. Was soll ich sagen: Es war wirklich nicht die Heidi Klum unter den Nordmanntannen und der Glöckner von Notre Dame wahrscheinlich gleichmäßiger gewachsen.
Heckenschere und Heißkleber
Er sprach es zwar nicht laut aus, doch ich kenne den Blick. Der Ingenieur im Mann sinnierte darüber, wie er mit Heckenschere und Heißkleber für eine bessere Verteilung der Zweige sorgen könnte. Jetzt war schnelles Handeln gefragt. Sonst würde es bald nicht mehr nach Tannennadeln, sondern angeblich geruchsneutralem Ethylen-Vinylacetat-Copolymer riechen. Und wenn es ganz dumm lief, würden wir Heiligabend in der Notaufnahme sitzen – in der Handtasche einen Gefrierbeutel mit viel Eis und darunter einem versehentlich abgeschnittenen Daumen. Also rief ich prophylaktisch: "Wer ohne Makel ist, der säge am ersten Ast."
Geschöpfe Gottes
Zugegeben, etwas sehr viel Pathos, aber auf die Schnelle ist mir nichts Besseres eingefallen. Dann wurde mir klar: Ich habe recht. Bäume sind genauso Geschöpfe Gottes. Wären zur Geburtstagsparty seines Sohnes nur die Perfekten eingeladen, würde ich ebenfalls draußen stehen. Deshalb darf die Tanne bleiben, wie sie gewachsen ist. Und je länger ich sie betrachte, desto besser gefällt mir das Individuelle. Von wegen Fehlkauf: Das ist mein Traum-Baum!
In diesem Sinne wünsche ich allen frohe Weihnachten.
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