Offener Brief an Kretschmann
Bürgermeister fordern Wege aus dem Lockdown

Ortenau (ds/st). Insgesamt 16 Bürgermeister im südlichen Baden-Württemberg - darunter Bruno Metz (Ettenheim), Erik Weide (Friesenheim), Dietmar Benz (Mahlberg), Matthias Litterst (Schuttertal), Jochen Paleit (Kappel-Grafenhausen), Alexander Schröder (Meißenheim) und Peter Heuken (Neuried) - fordern in einem offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann Wege aus dem Lockdown:

Im Wortlaut

"Seit nunmehr fast einem Jahr begegnen wir einer - jedenfalls für unsere Generationen - ungeahnten Herausforderung. Wir sind allen, die in ihrer Funktion an der Bewältigung der Corona-Krise mitarbeiten, für den engagierten Einsatz  dankbar. Der Wissenschaft, der Medizin, dem Personal in Pflege und Betreuung, allen Verbänden und selbstverständlich der Politik und Verwaltung.

Mit Freuden haben wir die Öffnungspläne der Landesregierung für die Kindertagesstätten und Schulen verfolgt. Weitere Lockerungen sollen allerdings nur dann erfolgen, wenn der Inzidenzwert von 35 Infizierten je 100.000 Einwohnern unterschritten wird (3 bis 5 Tage lang).

Nicht weitblickend genug

Nach einer solch langen Zeit in der Pandemie erscheint uns diese Ausrichtung des politischen Handelns für nicht mehr weitblickend genug.

Das Ziel der Kontaktminimierung lässt sich mit den aktuell geltenden Regelungen nicht erreichen, ohne bei der Betrachtung der unterschiedlichen Betroffenheiten eine kaum mehr akzeptable Ungerechtigkeit feststellen zu müssen. Ob regional zwischen den Landkreisen oder im Einzelfall.

Der kleine Einzelhändler in der Innenstadt kann es nicht nachvollziehen, warum er mit hervorragendem Hygienekonzept seine Kleidung nicht mehr direkt verkaufen darf. Im Vollsortimenter am Stadtrand darf aber legal nicht nur das Lebensnotwendige verkauft werden, sondern eben auch Kleidung aller Art. Und die Lebensmitteldiscounter und -märkte sind voll; trotz gut ausgearbeiteter Schutzkonzepte kann dort von Einhaltung der Corona-Verordnung wegen der schieren Menschenmenge teilweise nicht mehr gesprochen werden.

Auch Hotellerie und Gastronomie, als Branche einer der größten Arbeitgeber der Republik, haben sich im vergangenen Jahr mit ausgezeichneten Hygienekonzepten fit für den sorgfältigen Umgang mit der Pandemie gemacht und finden sich trotzdem aktuell in der vollkommenen Perspektivlosigkeit wieder.

Gerade wenn die Fallzahlen nun, wie aktuell erkennbar, sich nicht in eine gute Richtung entwickeln und vorsichtige Öffnungen nach bisheriger Lesart riskant sein könnten, wie wollen wir dann den Blick auf die kommenden Monate richten? Ist es nicht gerade vor dem Hintergrund der so genannten Mutanten dringend an der Zeit, andere Strategien ernsthaft zu diskutieren, um nicht weiteren monatelangen Stillstand des öffentlichen Lebens, der Geschäfte, Gastronomie und Veranstaltungsbranche im Blick auf nicht erreichbare Inzidenzwerte festzuschreiben?

Offene Diskussion

Wir fordern eine offene Diskussion und Abwägung aller betroffenen Rechtsgüter und Teilbereiche. Der Gesundheitsschutz kann als alleiniges Argument nicht mehr alle anderen Argumente aushebeln und die individuellen Freiheitsrechte erheblich einschränken.

Dabei stellen wir die Gefährlichkeit und die Existenz der Krankheit und des Coronavirus nicht in Frage.

Trotzdem benötigt unser Land klare und transparente Öffnungsstrategien. Insbesondere unsere Schulen und Kitas müssen dauerhaft geöffnet werden. Weitere Schließungen dürfen keine Option mehr sein. Das Land wird ansonsten seinem Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht mehr gerecht. Es droht der Verlust einer ganzen Generation.

Welche Verluste erleiden wir im Bereich der Kultur? Wie viele Kulturschaffende und Soloselbstständige werden im Laufe der nächsten Wochen aufgeben müssen? Und vor allem, wer nimmt nach solch einer langen Zeit noch kulturelle Angebote an? Gehen wir nach der Schließung wieder ins Theater oder ins Kino wie zuvor?

Gesundheitliche Auswirkungen

Ein aus unserer Sicht völlig vernachlässigtes Thema ist der allgemeine Bewegungsmangel, gerade bei den Kindern und Jugendlichen. Welch negative Auswirkung hat die fehlende Bewegung dauerhaft auf unsere Gesundheit, auf unser Gesundheitssystem und wie wird sich die intensive Mediennutzung im Homeschooling darauf auswirken?

Welche langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen hat die ruhende Vereinsarbeit in den Bereichen Sport und Kultur? Welches Kind oder welcher Senior fängt nach einer solch langen Zeit wieder mit seinem Hobby an?

Wie wirkt sich die Vereinsamung auf die Gesundheit und die Psyche unserer Senioren aus?

Wir fordern eine Abkehr von der reinen Politik der Beschränkung und Verbote zu einer Politik der möglichst großen Freiheit mit bestmöglicher Begleitung von Hygienemaßnahmen.

Das Coronavirus gehört zwischenzeitlich zu uns. Wir werden es für lange Zeit nicht schaffen, alle daraus resultierenden Risiken auszuschalten.

Deshalb muss das Motto für die kommenden Wochen heißen: Zulassen, statt zu lassen!

Öffentliche Diskussion

Die Entscheidungsgrundlagen für weitere Schließungen dürfen nicht mehr hinter verschlossener Tür verhandelt werden. Die Belange der Wirtschaft, des Handels, der Kulturschaffenden, der Familien und der Singles beziehungsweise der Alleinlebenden müssen ihren Platz in der öffentlichen Diskussion finden.

Ebenso ist mittlerweile bekannt, dass sich die Menschen, als Ausgleich, im privaten Umfeld treffen und es mit der Corona-Verordnung nicht mehr so ernst nehmen. Auch in Bezug auf dieses Wissen, sind Schließungen auf die Tauglichkeit der Maßnahme zu überprüfen.

Wir als Bürgermeister bekommen im direkten Kontakt mit den Mitbürgern und Einwohnern die unmittelbare Verzweiflung gerade der Einzelhändler, aber auch der Gastronomen zu spüren. Viele von ihnen haben ihre auch als Altersvorsorge gedachten Rücklagen bald komplett aufgebraucht und werden am Ende alles verloren haben, wenn nicht die versprochene Unterstützung wirklich umfassend, zeitnah und vollständig fließen wird.

Gelingt hier nicht sehr kurzfristig die Korrektur, so werden gerade wir in unseren Kommunen, bald unsere Innenstädte und Gemeindezentren nicht wiedererkennen; vom Online-Handel können unsere Innenstädte nicht leben.

Schließungen dürfen nicht mehr flächendeckend geschehen, sondern müssen nach solch einer langen Zeit differenzierter vorgenommen werden. In welchen öffentlichen Bereichen stecken sich die Menschen an? Müssen Speiselokale geschlossen bleiben, wenn zum Beispiel die Öffnung von Bars und Diskotheken nicht möglich ist?

Nur wenn dieser Abwägungsprozess endlich transparent erfolgt, werden notwendige Beschränkungen in der Zukunft auch Akzeptanz finden.

Öffnungsstrategie

Dabei beteiligen wir uns bereits heute aktiv an Corona-Schwerpunktpraxen und arbeiten bei allen Aufgaben mit den Gesundheitsämtern eng zusammen. Auch die aktuelle Teststrategie des Landes unterstützen wir aktiv. Wir sind bereit, dies in Zukunft noch intensiver zu tun. Denn wir sind überzeugt, da uns auf kurze und mittlere Frist die Verknüpfung intelligenter Testszenarien mit einer wohlüberlegten Öffnungsstrategie deutlich schneller aus der Krise führen wird, als das ungeduldige
Warten auf durchschlagende Impferfolge.

Auch das verbindliche Tragen von FFP2 Masken sehen wir als gute Begleitung einer Öffnungsstrategie an.

Insgesamt darf die Angst vor der eventuellen nächsten Welle oder dem nächsten Mutanten uns nicht lähmen und zu den bisherigen Verhaltensmustern zurückkehren lassen. Wie heißt es doch: Angst ist kein guter Ratgeber!

Wir möchten nochmals sehr deutlich machen, dass wir höchsten Respekt vor dem bisher Geleisteten haben. Wir möchten aber an Sie appellieren, die unmittelbare Betroffenheit der kleinen Geschäfte vor Ort noch stärker in den Fokus zu nehmen. Es geht hier sowohl um den Schutz der Qualität unserer Innenstädte und der dörflichen Strukturen. Es geht aber auch um den Schutz von Existenzen, von Familien, von Bildungsperspektiven und Zuversicht.

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