Offener Brief von Christian Huber
"Eindimensionale Begründung"

Christian Huber | Foto: Gemeinde Willstätt

Willstätt (st). Willstätts Bürgermeister Christian Huber hat sich in einem offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann zum Thema "Schulschließungen nach den Osterferien" geäußert. 

Im Wortlaut

"Mit ungläubigem Erstaunen und bitterer Enttäuschung habe ich am 1. April die Nachricht des Herrn Ministerialdirektors Föll gelesen. Das Pandemiegeschehen lasse keine andere Wahl, heißt es dort. In der Woche ab dem 12. April soll kein Präsenzunterricht stattfinden und danach auch nur 'sofern es das Infektionsgeschehen dann zulässt'. Gleichzeitig soll eine Notbetreuung eingerichtet werden.

Ich möchte das einmal zusammenfassen: Nach den freien Tagen an Fasnacht und vor der Landtagswahl werden die Grundschulen vollständig geöffnet. Stück für Stück verschärft man die Regelungen für die Schüler. Die Klassen werden strikt getrennt. Die Schüler müssen Abstand halten, strenge Hygienekonzepte werden in den Schulgebäuden umgesetzt, Klassenzimmer werden gelüftet und zuletzt wird den Grundschülern das Tragen von Masken verordnet. Auch das Lehrpersonal wird geschützt, erhält das Impfangebot durch die veränderte Impfreihenfolge. Hinzu kommen die Teststrategien, die durch das frühzeitige Erkennen positiver Fälle einer unbemerkten und unkontrollierten Verbreitung entgegenwirken. Wir als Kommune haben uns selbst darum gekümmert, frühzeitig den Schulen Testmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, die Lehrkräfte zu schulen und Testungen durchzuführen. Ich möchte an dieser Stelle die herausragende Zusammenarbeit mit den Schulleitungen und Schulen in unserer Gemeinde hervorheben, denn alle Maßnahmen wurden trotz der widrigen Umstände bestmöglich umgesetzt.

Alle Maßnahmen und die gesamte Konzeption sind darauf ausgerichtet, eine Weiterverbreitung von Covid-19 in den Klassenzimmern möglichst komplett zu vermeiden. Die Praxis zeigt in unserer Gemeinde, dass eine Weiterverbreitung an Schulen einerseits erfolgreich verhindert werden kann und andererseits die dafür notwendigen Quarantäne-Maßnahmen minimiert worden sind. Eines zeigt die Praxis jedoch auch mehr als deutlich: Die auftretenden Infektionen in Schulen kommen von außen, denn einen Eintrag der Krankheit von außen können alle getroffenen Maßnahmen nicht verhindern.

Seit November befinden wir uns mehr oder minder ununterbrochen in einem Lockdown. Seit mehr als einem Jahr haben unsere Kinder kaum mehr geregelten Unterricht wahrnehmen können. Dies alles mit der meiner Meinung nach eindimensionalen Begründung, man müsse die Inzidenz niedrig halten und ein unkontrollierbares Infektionsgeschehen vermeiden.

Die Erfahrung zeigt deutlich, dass trotz aller Maßnahmen Inzidenzen jenseits der 100 auftreten. Ja, auch in der Gemeinde Willstätt treten Fälle in Schulen und Kindergärten auf. Ich möchte jedoch deutlich betonen, dass es sich bei den Fällen nicht um eine Verbreitung innerhalb der Schule handelt, sondern um Einträge von außen. Konsequentes Handeln der Schulen und Verwaltung, unterstützt durch unser Gesundheitsamt führten jedoch in allen Fällen zu einer frühzeitigen Eindämmung durch Quarantänemaßnahmen. Warum gelingt dies? Einerseits durch Testungen, die ein frühes Erkennen der Fälle möglich machten und andererseits durch konsequentes Umsetzen der Hygienemaßnahmen. Die erkrankten Schülerinnen und Schüler und auch Kinder in den Kindergärten sind also nicht erkrankt, weil sie sich in den Schulen oder Kindertageseinrichtungen angesteckt haben. Nein, die Ansteckung erfolgte im privaten Umfeld.

Und trotzdem haben Sie, Herr Ministerpräsident, die Entscheidung getroffen, dass erneut Schulschließungen umgesetzt werden sollen. Zur Begründung wird angeführt, dass '(…)sich insbesondere die Mutation 8.1.1.7 des SARS-CoV2-Virus deutlich stärker unter Kindern und Jugendlichen verbreitet, als dies bei dem bisher vorwiegend grassierenden Virustyp der Fall ist (…)'.

Schaut man sich die Statistik vom 1. April 2021 an, so werden für Schulen 26 aktive Ausbrüche mit 114 darauf aufbauenden Infektionsfällen gemeldet. Schlüsselt man dies weiter auf, so kann man ablesen, dass allein sechs Ausbrüche für 52 Infektionsfälle verantwortlich sind, die übrigen 20 Ausbrüche dann für 62 Fälle. Der größte Teil der Ausbrüche an Schulen bleibt damit mit der darauf aufbauenden Anzahl an Fällen hinter den Verhältnissen zurück, die zum Beispiel im privaten Umfeld (362 zu 1.355, das heißt ein Ausbruch führt zu fast vier Fällen) oder am Arbeitsplatz (116 zu 1.034, das heißt ein Ausbruch führt zu neun Fällen) herrschen. Und das, obwohl die Teststrategie des Landes noch nicht einmal in der Fläche umgesetzt ist.

Ich bin fest davon überzeugt, dass durch eine sinnvolle Teststrategie, wie sie in Willstätt und unzähligen anderen Kommunen bereits vor den Osterferien umgesetzt wurde und unmittelbar nach den Ferien fortgesetzt werden könnte, die Anzahl der auf einem Ausbruch aufbauenden Fälle noch weiter reduziert werden könnte. Die Maßnahmen würden mit einer konsequent durchgesetzten Testpflicht für die Präsenz in ihrer Wirksamkeit sogar noch weiter erhöht.

Warum also eine Schließung der Schulen?

Weil das Land noch nicht so weit ist? Weil keine Tests zur Verfügung stehen? Weil die Finanzierung unklar ist? Ich kann Ihnen versichern, Herr Ministerpräsident, dass dies Fragen sind, die die Gemeinde Willstätt und sicher auch unzählige weitere Kommunen lokal sehr schnell beantwortet bekommen.

Ich bin überzeugt davon, dass das geregelte Umfeld in den Schulen unter Einhaltung konsequenter Test- und Hygienestrategien besser dazu beitragen kann, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle zu halten, als das beim deutlich weniger bis gar nicht kontrollierbaren privaten Umfeld möglich ist. Ich bin auch fest davon überzeugt, dass das Infektionsgeschehen deutlich weniger umfangreich wäre, wenn in allen Bereichen mit der gleichen Konsequenz Maßnahmen umgesetzt würden, wie dies aktuell bereits an den Schulen der Fall ist.

Warum also eine Schließung der Schulen?
Darauf finde ich keine Antwort und leider bleiben Sie diese Antwort ebenfalls schuldig. Der Lockdown scheint die einfachste Lösung, lässt jedoch zugleich die Mehrdimensionalität der Lage außer Acht.

Was ist mit der Psyche der Kinder? Was ist mit dem Lerndefizit derer, die mangels Möglichkeiten im Elternhaus nicht das Niveau halten können? Wie wirken sich die mangelnden Sozialkontakte auf die Entwicklung der Kinder aus? Diese und unzählige weitere Fragen und Aspekte werden scheinbar außer Acht gelassen. Für unsere Kinder ist die Schule das einzige Bisschen Normalität, das gerade zur Verfügung steht, denn Vereine, Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte sind verboten. Alleine so etwas schreiben zu müssen, zeigt viel der aktuellen Dramatik auf.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, ich bin Bürgermeister einer kleinen Gemeinde mit gerade einmal 10.000 Einwohnern. Ich verstehe, dass Sie eine ungleich größere Verantwortung auf Ihren Schultern tragen. Ich bin mir auch vollumfänglich der Dramatik der Pandemie bewusst und habe im zurückliegende Jahr Kenntnis von unzähligen Infektionsfällen mit teils gravierenden Auswirkungen für die Betroffenen erlebt. Ich konnte auch nachvollziehen, dass in den ersten Tagen der Pandemie im vergangenen Jahr vieles improvisiert war und Erfahrungen gesammelt werden mussten. Nun sind wir jedoch ein Jahr weiter. Die Erfahrungen sind gemacht. Es gibt Strategien, die Erfolg zu versprechen scheinen. Und dennoch bleibt die einzige in Dauerschleife wiederholte Antwort lediglich: Wir schließen. Lockdown.

Ich habe eine Erwartungshaltung an Sie, Herr Ministerpräsident: Werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht und betrachten Sie die Pandemie endlich mit der Mehrdimensionalität, die die Situation erfordert. Sie haben sich bewusst für eine weitere Amtsperiode und damit auch für die Übernahme der Verantwortung entschieden. Bitte handeln Sie nun danach! Die Entscheidungen sind nicht einfach. Aber ich erhalte derzeit den Eindruck, dass man sich die Entscheidungen zu einfach macht.

Ich hoffe, dass ich mit meinem Schreiben dazu beitragen kann, dass Sie in Bezug auf die angedeuteten Entscheidungen einen Schritt zurückgehen, die Gesamtlage aus ein wenig weiterer Perspektive nochmals beleuchten und dann zu einer für alle sinnvollen Entscheidung gelangen."

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