Angedacht: Andreas Moll
Fürsorge auf Zunge zergehen lassen
„Wie sagt man?“, fragen Mama oder Papa mahnend, wenn dem Sprössling wieder einmal ein Bonbon oder ein Stück Käse beim Einkaufen gereicht wird. „Hast du auch schön Danke gesagt?“, wird gefragt, wenn Oma und Opa dem Kind ein Geschenk mitgebracht haben. Scheinbar muss Dankbarkeit anerzogen werden, schlimmer noch: Dankbarkeit wird offensichtlich gar angeordnet. Nicht nur von Erziehungsberechtigten, sondern auch vom Staat.
Erntedank und Wiedervereinigung
Am 3. Oktober mussten wir alle dankbar sein für 30 Jahre Wiedervereinigung. Und nun kommt sogar noch die Kirche und fordert heute, dankbar zu sein für die Ernte. Dabei ist doch bei uns kaum jemand wirklich auf die Tomaten und Äpfel aus dem eigenen Garten angewiesen. Je nach Pflegeaufwand hat man noch nicht einmal einen finanziellen Vorteil. Und unsere Landwirte mussten für die Ernte das ganze Jahr über hart arbeiten, bei meist nur geringem Gewinn.
Keine Angst, ich möchte niemandem das heutige Erntedankfest vermiesen. Ich möchte nur vermeiden, Ihnen Dankbarkeit einzureden. Ins Danken kann nur behutsam eingeführt werden. Dankbarkeit muss sich von selbst einstellen: als Ahnung der Gnade Gottes, die er uns umsonst, also gratis, schenkt. Völlig unverdient dürfen wir aufatmen und auf alles Gute in unserem Leben blicken. Das möge uns Geschmack machen auf diesen Gott. Vielleicht schmecken wir heute sogar seine Fürsorge, wenn wir zum Abendmahl oder zur Eucharistie gehen und uns seine Liebe auf der Zunge zergehen lassen.
Andreas Moll, evangelischer Pfarrer im Achertal und Sasbachwalden
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