Fußnote, die Glosse im Guller
Von der Phobie vor Frischluft
Eine Welle des Mitleids mit den Schülern in Baden-Württemberg überflutet gerade das Land. Der Grund: Das Kultusministerium verlangt, dass die Klassenzimmer wegen der Corona-Gefahr nicht mehr nur alle 45 Minuten gründlich gelüftet werden, sondern alle 20 Minuten. Und zwar so richtig – die Fenster müssen drei bis fünf Minuten ganz geöffnet sein. Während der Pausen sollen darüber hinaus offene Türen für Durchzug sorgen.
Ohrläppchen flattern im Wind
Ich sehe die armen Kinderlein schon vor mir, wie sie mit von der eisigen Winterkälte blauen Lippen und steifen Fingern bibbernd versuchen, etwas zu notieren, während die Ohrläppchen im Wind flattern. Das Rote Kreuz soll bereits dazu aufgerufen haben, warme Wollmützen für die bald frierenden Schüler zu spenden. Andere Hilfsorganisationen denken wohl intensiv darüber nach, wie sie im 20-Minuten-Rhytmus jedes Klassenzimmer mit heißem Kakao beliefern können. In der südlichen Ortenau will jemand sogar einen Lastwagen der Bundeswehr beobachtet haben, der eine Schule mit Wolldecken aus Armeebeständen bestückte.
Miefige Klassenzimmer
Es ist schon wahr, Corona macht das Schülerleben nicht leichter. Schlimm genug, dass während der ersten Jahreshälfte der Unterricht ziemlich auf der Strecke blieb. Auch jetzt leidet der normaler Schulalltag. Um eins beneide ich sie aber regelrecht: Die Schüler müssen nicht mehr wie ich früher in miefigen Klassenzimmern sitzen.
Lebenselixier oder Folterinstrument
Bereits in jungen Jahren erkannte ich, dass die Menschheit sich in zwei Lager spaltet: Die einen empfinden Sauerstoff als Lebenselixier, die anderen als Folterinstrument. Bedauerlicherweise sind es Letztere, die in Schulungsräumen oder Büros grundsätzlich immer am Fenster sitzen und diese dann fest unter Verschluss halten. Da mögen die Stubenfliegen schon reihenweise wegen Sauerstoffmangels von den Wänden fallen, trotzdem weigern sich diese Leute wegen einer möglichen Erkältungsgefahr das Fenster auch nur kurz einen Fingerbreit zu öffnen. Klar, die bösen Viren lauern nur darauf, den Ersten anzufallen, der sie in den überheizten Raum lässt. Deshalb spricht man ja auch von der Gefahr, die aus der Kälte kommt. Die Frischluft-Phobie beschränkt sich dabei meist nicht nur auf die kühlere Jahreszeit. Selbst im warmen Sommer wird sie gepflegt. Dann heißt der Feind Zugluft, selbst wenn sich kein Lüftchen regt.
Nein, kurzes Stoßlüften ist auch im Winter keine Körperverletzung. Ich habe hier sogar einen heißen Tipp: einfach so lange eine Jacke überziehen.
Anne-Marie Glaser
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