Kreis-Jubiläum
Frank Scherer zu Meilensteinen und Herausforderungen
Ortenau 1973 wurden die heutigen 51 Städte und Gemeinden aus insgesamt fünf Landkreisen zum Ortenaukreis zusammengefasst. Er ist der flächenmäßig Größte in Baden-Württemberg. Zum 50-jährigen Bestehen legt der Guller in seiner heutigen Ausgabe den Schwerpunkt auf dieses stolze Jubiläum und sprach mit Landrat Frank Scherer über Kreisidentität und Meilensteine.
Inwiefern hat sich der Zusammenschluss bewährt?
Der Zusammenschluss aus den ehemaligen Kreisen Offenburg, Lahr, Kehl, Wolfach und Bühl zum größten Landkreis Baden-Württembergs hat sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt. Die kleinen Altkreise hätten einfach nicht die Schlagkraft, unsere heutigen Aufgaben und aktuellen Herausforderungen zu meistern. Die Kreisreform und nicht zu vergessen die große Verwaltungsreform von Erwin Teufel im Jahr 2005 haben Landratsämter entstehen lassen, die als große öffentliche Dienstleister verschiedenste Aufgaben gebündelt erledigen können, ohne sich in unendlichen Abstimmungsprozessen unterschiedlicher Behörden zu verlieren. Die Vorteile zeigen sich beispielsweise darin, dass wir selbst hoch komplexe Genehmigungsverfahren, wie zum Beispiel für Windkraftanlagen, relativ effizient erledigen können. Oder stellen Sie sich vor, wir hätten es auf unserer Fläche noch mit fünf unterschiedlichen ÖPNV-Tarifsystemen und Abfallbehandlungen zu tun oder müssten uns unter fünf Landratsämtern über gemeinsame Lösungen abstimmen. Auch die Neustrukturierung unserer Kliniklandschaft durch die Agenda 2030 war so nur aufgrund der heutigen Größe des Ortenaukreises möglich.
Wie stark ist nach fünf Jahrzehnten die gemeinsame Identität und worin äußert sie sich?
Ich habe den Eindruck, dass es längst so etwas wie die Ortenauer Identität gibt. In den letzten fünf Jahrzehnten ist hier ein Kommunikations-, Kultur- und Wirtschaftsraum entstanden, mit dem sich die Menschen identifizieren. Ich kenne niemanden, der noch den Altkreisen nachtrauert und ich denke, dass die große Mehrheit sich als Ortenauerin oder Ortenauer sieht. So nehme ich es in Gesprächen vor Ort in unseren Städten und Gemeinden wahr, aber auch bei Anlässen wie dem Ortenauer Bürgerfest, wenn wir gemeinsam den Ortenaukreis als unsere schöne Heimat hochleben lassen. Wie sehr sich die Menschen mit der Ortenau identifizieren und dass sie zu einer echten Marke geworden ist, zeigt sich letztlich auch in den vielen Publikationen und Namensgebungen mit Ortenau-Bezug.
Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Meilensteine?
Ein großer Wurf in der frühen Kreisgeschichte war sicher die Einführung einer geordneten Abfallwirtschaft mit einer öffentlichen Müllabfuhr – bis 1973 gab es im Ortenaukreis 123 Deponien, es war eine Zeit, in der sich niemand wirklich Gedanken über eine ordentliche Müllbeseitigung gemacht hat. Seit 2006 entsorgen wir den Hausmüll bei unserem Zweckverband Abfallbehandlung Kahlenberg, ZAK, in Ringsheim mittels eines weltweit einmaligen und patentierten mechanisch-biologischen Abfallbehandlungsverfahrens. Die Anlage steht für höchste ökologische Standards und Sauberkeit, Fortschritt und Technologie sowie besonders niedrige Müllgebühren.
Was waren weitere wichtige Meilensteine in 50 Jahren?
Aus den Anfangsjahren ist hier auch die Übernahme von neun städtischen Krankenhäusern durch den Ortenaukreis zu nennen, um im gleichen Atemzug auf die größte Reform und Investition der Kreisgeschichte sprechen zu kommen, die Neuordnung und Modernisierung der Gesundheitsversorgung im Ortenaukreis durch die Agenda 2030. Hier werden rund 1,3 Milliarden Euro investiert, um zukünftig die Ortenauer Bevölkerung stationär in vier Krankenhäusern und ambulant in Zentren für Gesundheit passgenau und erstklassig zu versorgen.
Zurückblickend möchte ich aber auch an die Gründung der Tarifgemeinschaft Ortenau, TGO, 1991 erinnern, mit der ein erstes bedeutendes Kapitel im öffentlichen Personennahverkehr aufgeschlagen wurde. 30 Jahre später hat die Kreispolitik mit der weitgehenden Neugestaltung und Vereinfachung der Tarife durch die Tarifreform 2021 ein weiteres bedeutendes Kapitel mit dem Einstieg in ein neues ÖPNV-Zeitalter aufgeschlagen und sicher werden weitere bald folgen. Auch die Entwicklung unseres Kreisstraßennetzes seit 1973 hat eine historische Dimension, nicht nur, weil es von 230 Kilometern auf rund 375 Kilometer gewachsen ist, sondern weil wir seit 2008 intensiv in den Bau von Radwegen entlang der Kreisstraßen investiert haben. Seitdem haben wir 92 Kilometer neu gebaut, sodass wir heute 188 Kilometer Radwege an Kreisstraßen haben und nur noch rund 30 Kilometer fehlen, bis alle sinnvollen Radwege an Kreisstraßen gebaut sind.
Große Zäsuren in der Kreisgeschichte waren auch die Eingliederung der unteren Sonderbehörden 1994/1995 und die schon erwähnte Verwaltungsreform 2005, wodurch sinnvollerweise zahlreiche Aufgaben unter dem Dach des Kreises gebündelt wurden. Waren vor den Reformen im Landratsamt noch weniger als 1.200 Menschen tätig, sind es heute allein in der Kernverwaltung 2.600, die die Ortenau am Laufen halten. Und nicht zuletzt war auch die Gründung des Eurodistrikts Strasbourg-Ortenau 2008 ein bedeutender Meilenstein in der Geschichte des Ortenaukreises. Hierdurch erhielt die für den Alltag der Menschen beidseits des Rheins enorm wichtige politische und administrative grenzüberschreitende Zusammenarbeit mehr Verbindlichkeit und eine demokratisch legitimierte Struktur, die es mutig weiterzuentwickeln gilt.
Inwiefern haben sich die Herausforderungen verändert?
Während in den Gründungsjahren des Ortenaukreises mit seinen damals rund 357.000 Einwohnern vor allem die Aufbauarbeit, das Zusammenwachsen und die Zusammenlegung der Kreiseinrichtungen im Fokus standen, waren dies neben den schon angesprochenen historischen Meilensteinen auch die Krisen der vergangenen Jahre und deren Folgen. Allein in meiner Amtszeit seit 2008 sind hier die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, die Flüchtlingskrise 2015/16, Corona und nun wieder eine Flüchtlingskrise einhergehend mit einer Inflation, Energiekrise und vielfältigen weiteren Herausforderungen für unsere Wirtschaft und die gesamte Gesellschaft zu nennen. Das alles wirkt natürlich auch massiv auf eine Kreisverwaltung ein – und dann sind da natürlich noch die Megathemen Digitalisierung und Klimaschutz, der grundsätzlich alle Bereiche des Landratsamtes umfasst. Dafür nehmen wir auch viel Geld in die Hand, alleine im letzten Doppelhaushalt summierten sich unsere Aktivitäten, die dem Klimaschutz dienen, auf rund 76 Millionen Euro. Besonders gefordert ist der Ortenaukreis heute auch, wenn es darum geht, die soziale Versorgung, Unterstützung und Teilhabe aller 442.000 Menschen, die heute hier leben, zu gewährleisten. Der Sozialstaat ist grundsätzlich eine hervorragende Sache – nicht nur für das Individuum, sondern für das gesamte Staatsgefüge. Er sichert menschenwürdige Lebensbedingungen für alle und trägt zum inneren Frieden bei. Allerdings muss der Kreis inzwischen rund 490 Millionen Euro jährlich und damit rund zwei Drittel seines Haushaltsvolumens für Sozialkosten einschließlich der Flüchtlingskosten aufbringen. Und die jährlichen Steigerungen unserer Sozialausgaben haben sich nun erstmals sogar verdoppelt. Deshalb geht es im Sozialbereich insbesondere darum, stärker nach der tatsächlichen Bedürftigkeit zu differenzieren und – wie in allen Bereichen – müssen die Gesetzgeber rasch Standards und Bürokratie abbauen und mit dem ungebremsten Draufsatteln von Rechtsansprüchen und staatlichen Leistungszusagen muss Schluss sein. Sonst überfordern wir die öffentlichen Haushalte und damit letztlich auch alle Steuerzahler.
Was sind die drei größten Herausforderungen der Zukunft?
Abgesehen von den bereits genannten Herausforderungen, bei denen wir größtenteils von Bund und Land abhängig sind, wird uns besonders die Sicherstellung der Versorgung mit regenerativen Energien, die Planung und Umsetzung von Maßnahmen zur Klimaanpassung im weitesten Sinne und die Digitalisierung beschäftigen.
Welche Empfindungen und Gedanken verbinden Sie persönlich mit dem Jubiläum?
Ich bin zehn Jahre älter als der Kreis, er ist also noch ein recht junger Kerl mit viel Entwicklungspotential und ich bin sehr zuversichtlich, dass er aufgrund seiner Größe und Stärke gute Zukunftsperspektiven hat. Deshalb war für mich das Jubiläum vor allem Anlass, mit den Ortenauerinnen und Ortenauern im Juli beim Bürgerfest in Nordrach zu feiern. Es ist doch einfach ein schönes Gefühl, in einer selbstbewussten Region leben und arbeiten zu dürfen, mit einer herrlichen Natur- und Kulturlandschaft, vielen renommierten Unternehmen, erstklassiger Spitzengastronomie und einem tollen Kultur- und Freizeitangebot. 1,3 Milliarden Euro werden im Rahmen der Agenda 2030 investiert Die Gründung des Eurodistrikts war ein bedeutender Meilenstein Frank Scherer
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