Task-Force für Kinder und Jugendliche
Anstieg psychischer Belastungen
Ortenau (st). Die schwierige Situation von Familien in Zeiten von Corona und Lockdowns hatte Landrat Frank Scherer bereits am 18. Juni in der damaligen Sitzung des Jugendhilfeausschusses thematisiert und sich dafür ausgesprochen, Bildungs- und Betreuungseinrichtungen verstärkt für das Thema Kinderschutz zu sensibilisieren. Vor allem kleinere Kinder hätten damals schon unter der sozialen Isolierung und der Belastung ihrer Eltern gelitten. Deshalb sei es mit Blick auf den Kinderschutz richtig und wichtig, dass Bildungs- und Betreuungseinrichtungen wieder bald ihr volles Angebot an den Start bringen, machte der Landrat damals deutlich.
„Das gilt auch heute, fast neun Monate später erst recht nach monatelanger Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen“, bekräftigte Scherer erneut zu Beginn der Sitzung des Jugendhilfeausschusses. Er nahm dabei auch Bezug auf aktuelle Medienberichte, nach denen die häusliche Gewalt gegenüber Kindern während der Corona-Krise zunehme.
Weil sich Kinder während des Lockdowns fast nur im häuslichen Umfeld aufhielten, könnten Lehrkräfte, Verwandte oder Nachbarn ihre Verletzungen nicht wahrnehmen. Auch würden immer mehr Kinder eine Psychotherapie benötigen. Die Zahl der Behandlungen sei nach dem Arztreport der Barmer-Krankenkasse im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent gestiegen, die Anfragen um 40 Prozent. Hinzu kämen diejenigen, die bisher noch keinen Therapieplatz gefunden hätten sowie eine wahrscheinlich beachtliche Dunkelziffer. „Deshalb unterstütze ich gerade auch unter diesem Aspekt die Überlegungen von Kultusministerin Susanne Eisenmann, wie wir möglichst bald die Bildungs- und Betreuungsangebote wieder hochfahren können. Das muss bei der Öffnungsstrategie höchste Priorität haben“, betonte Scherer.
Anstieg psychischer Belastungen
Einen deutlichen Anstieg psychischer Belastungen bei Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie bestätigten auch Jugendamtsleiter Heiko Faller, Ullrich Böttinger, Leiter des Amts für Soziale und Psychologische Dienste des Ortenaukreises sowie Gast-Referentin Reta Pelz, Chefärztin der MediClin-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie & Psychosomatik (Kinder und Jugendliche) an der Lindenhöhe in Offenburg. Besonders bestehende Vorbelastungen würden durch die anhaltenden Einschränkungen und den dadurch bedingten Wegfall von Kompensations- und Ausweichmöglichkeiten verstärkt, so die Experten.
„Krisen entstehen, wenn Belastungen und Ressourcen im Missverhältnis stehen“, erklärte Böttinger. „Viele der üblichen und hilfreichen Bewältigungsstrategien wie Freunde treffen, gemeinsam Sport machen und ausgehen fallen weg. Gerade für Jugendliche fehlt damit ein grundlegender Teil ihrer altersspezifischen Möglichkeiten an Freizeitgestaltung und sozialer Unterstützung. Wenn dann die Wohnungen eng und die Schulen geschlossen sind fehlen nicht nur die Freunde, sondern auch Lehrkräfte als Vertrauenspersonen in schwierigen Situationen.“ Bei Vorbelastungen und persönlichen oder familiären Konfliktlagen wirke Corona dann oftmals wie eine Art Brandbeschleuniger.
Reta Pelz bestätigte diesen Eindruck, so würden in der Lindenhöhe seit Herbst 2020 bis zu 40 Prozent mehr Notfallvorstellungen verzeichnet. „Wie auch in anderen Kinder- und Jugendpsychiatrien bundeslandübergreifend erleben wir eine gestiegene Inanspruchnahme unserer kinder- und jugendpsychiatrischen Versorgung besonders infolge von Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Schlafstörungen, Substanzmissbrauch und Schulverweigerung“, so die Chefärztin. „Zudem sehen wir einen Anstieg von Patienten die aufgrund akuter Suizidalität oder häuslicher Eskalation kinder- und jugendpsychiatrisch versorgt werden müssen.“ Zunehmend würden auch Eltern unter der anhaltenden Mehrfachbelastung leiden. „Der Stresslevel in den Familien ist durch Haushalt, Kinderbetreuung, Homeoffice und teilweise gleichzeitiges Homeschooling enorm gestiegen ist. Viele Eltern haben sich auf diese Anforderungen und die Doppelbelastung eingestellt und managen diese bestmöglich. Sie kommen dabei aber zunehmend an ihre Grenzen, sind erschöpft und zeigen vermehrt depressive Symptome“, so Pelz.
Jugendamtsleiter Heiko Faller ergänzte: „Durch das Wegfallen der für die Kinder und Jugendlichen immens wichtigen Betreuungsstrukturen in Kindertageseinrichtungen, Kindertagespflege und Schulen, beobachten wir, dass sich bereits vorher bestehende Probleme in vielen vom Jugendamt betreuten Familien deutlich verstärken.“ Vorher schon problembehaftete Eltern-Kind- oder Paar-Beziehungen verschlimmerten sich durch diese Drucksituationen. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamtes sehen sich häufig nur noch mit der Zielsetzung befasst, die Situation in den Familien so zu gestalten, dass sie nicht eskalieren. Die eigentlichen Ziele der Arbeit mit den Familien und der Unterstützungsleistungen treten in den Hintergrund. Es geht vorrangig um Stabilisierung, kurzfristige Entlastungsmöglichkeiten und den Umgang mit der pandemiebedingten Ausnahmesituation“, so Faller weiter.
Nach den Expertenberichten regte Landrat Scherer an, eine vom Ortenaukreis gesteuerte „Task-Force“ zu dieser Thematik einzurichten, um noch mehr Unterstützung bieten zu können, wofür er vom Gremium geschlossen grünes Licht erhielt. Sie werde ihre Arbeit aufnehmen, sobald weitere Daten und Studien vorlägen. Darin werden auch die Ergebnisse der von Scherer bereits im vergangenen Jahr initiierten Sensibilisierungskampagne des Jugendamtes zum Thema Kinderschutz für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe miteinfließen. Hierzu fanden bereits mehrere Onlineveranstaltungen statt. Anregungen und Rückmeldungen aus diesen Foren wurden aufgegriffen und bilden die Grundlage für weitere Angebote, die in den nächsten Wochen und Monaten vom Jugendamt bereitgestellt werden. Damit sollen auch die Schwierigkeiten und Problemlagen, die mutmaßlich nach Wiederöffnung der Kitas und Schulen auf die Kinder- und Jugendhilfe zukommen, abgefedert werden.
Die Psychologischen Beratungsstellen für Eltern, Kinder und Jugendliche und die Fachstellen Frühe Hilfen stehen seit Beginn von Corona ununterbrochen allen Kindern und Familien als jederzeitige Anlauf- und Unterstützungsstellen zur Verfügung. Zusätzlich zu Präsenzterminen werden zwischenzeitig auch Telefon- und Videoberatungen angeboten, um möglichst viele Menschen im Ortenaukreis auf unterschiedlichen Wegen erreichen zu können. Insbesondere in Krisensituationen und besonderen Problemlagen sind jederzeit auch sehr kurzfristige Termine möglich.
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