Angedacht: Clemens Bühler
Einsetzen für ein Europa des Geistes
Während des Ersten Weltkriegs schreibt eine junge Philosophin an einen polnischen Freund. Eben erst hat Edith Stein in Freiburg den Doktortitel erworben. Die Welt steht in Flammen, und als freiwillige Helferin in einem Seuchenlazarett hat sie das Elend kennengelernt. Was für sie das Wichtigste ist in dieser Situation, schreibt sie in dem Brief: „zu sehen, was aus Europa wird“.
Sie selbst will ihren Beitrag leisten zur Weiterentwicklung der Gesellschaft. Als Frau und als Jüdin bekommt sie nicht die Chance auf eine Karriere an der Universität. Deshalb setzt sie sich als Pädagogin ein: in der Schule, in der Lehrerausbildung, in der Entwicklung einer Pädagogik für Mädchen.
Am Ende des Chorals „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ heißt es: „Verricht das Deine nur getreu!“ Das Ihre hat Edith Stein getan und ihre Talente eingebracht. Sie hat die Möglichkeiten ergriffen, die sie hatte – bis sie im Dritten Reich nicht mehr arbeiten durfte und ins Kloster eintrat. Das beeindruckt mich an Edith Stein: Sie resigniert nicht in widrigen Situationen, sondern macht das Beste daraus.
Gestern war Europatag. Dieser Tage denken wir auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs. Führende Politiker waren damals der Überzeugung, dass eine solche Katastrophe nur zu verhindern sei durch Zusammenarbeit und Solidarität in Europa. Sechs Heilige, Frauen und Männer, sind von den Päpsten als Schutzpatrone Europas erklärt worden, darunter Edith Stein. Sie hat den Lauf der Geschichte nicht verändert. Aber sie hat sich eingesetzt für die Menschen und für eine menschliche Entwicklung.
Der frühere Kardinal von Mailand, Carlo Maria Martini, formulierte in einem Gebet für Europa: „Vater der Menschheit, Herr der Geschichte! Gib uns, dass wir uns einsetzen für ein Europa des Geistes, das nicht nur auf wirtschaftlichen Verträgen gegründet ist, sondern auch auf menschlichen und ewigen Werten: Ein Europa, fähig zur Versöhnung, zwischen Völkern und Kirchen, bereit um den Fremden aufzunehmen, respektvoll gegenüber jedweder Würde.“
Clemens Bühler, Leiter des Bildungszentrums Offenburg
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