Angedacht von Roland Kusterer
Doppelgebot der Liebe

Ein Rabbi fragte seine Schüler, wann der Tag beginnt. Der erste Schüler fragte: „Beginnt der Tag, wenn ich von Weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“ – „Nein“, sagte der Rabbi. „Beginnt der Tag, wenn ich von Weitem einen Dattelbaum von einem Feigenbaum unterscheiden kann?“, fragte der zweite Schüler. Der Rabbi verneinte wieder. „Wann beginnt nun der Tag?“, wollten die Schüler wissen. Der Rabbi antwortete: „Der Tag beginnt, wenn du in das Gesicht eines Menschen blickst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst.“ Leider können sich Menschen oftmals nicht als Geschwister sehen. Die Nacht ist noch bei uns, solange kein Friede herrscht und solange Anschläge auf Synagogen und jüdische Menschen verübt werden. Als Jesus einmal von einem Schriftgelehrten gefragt wurde, welches das höchste Gebot sei, da antwortete Jesus: „Das höchste Gebot ist: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“ Der Schriftgelehrte stimmte Jesus zu: „Ja Rabbi, du hast recht geredet.“(Mk.12,28-34).

An diesem Sonntag ist Israelsonntag. Das Evangelium des Sonntags erinnert uns daran, wie verbunden Christentum und Judentum sind. Wir sollen mit jüdischen Menschen aber nicht nur durch das Gebot der Nächstenliebe verbunden sein. Das ist nicht als Pflichtübung gemeint. Der jüdische Rabbi zeigt die Perspektive: Wann und wo geht für uns die Sonne auf? Entweder wir bleiben in der Nacht oder wir erkennen die Verbundenheit, die das Angesicht unserer Mitmenschen leuchten lässt. Je nach Person wird es vielleicht nicht einfach sein, den Bruder oder die Schwester im Gesicht eines anderen zu sehen. Verbundenheit entsteht durch Gottes Gnade, wir dürfen jeden Morgen neu versuchen, ins Gesicht eines anderen zu schauen. Die Sonne gewinnt jeden Tag neu über die Nacht, ein Neuanfang ist jederzeit möglich. Gottes Barmherzigkeit und Güte begleiten uns, damit es Tag werden kann in unserem Leben. Das dürfen wir wissen und dafür beten, gerade wenn es uns schwerfällt, im anderen den Bruder oder die Schwester zu sehen. Jesus und der Schriftgelehrte, Christen und Juden sind sich darin einig: Das Gebot der Nächstenliebe fasst alle anderen Gebote zusammen. Wo wir danach leben, beginnt die Welt zu leuchten.

Pfarrer Roland Kusterer, evangelische Kirchengemeinde Oberkirch

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