Angedacht: Martin Schaal
Verstecken hinter dem Ruf nach Freiheit
Freiheit – ein wertvolles Gut – und wie anspruchsvoll ist sie! Das edle Gut muss sich gefallen lassen, dass Schindluder mit ihm getrieben wird.
Erstes Beispiel: "Freie Fahrt für freie Bürger!" Ist da die Freiheit gemeint, sich einem Denken in größeren Zusammenhängern zu verweigern? Aber wer bezahlt für diese Freiheit?
Zweites Beispiel: "Freihandelsverträge fördern die Wirtschaft!" Aber haben die lauten Befürworter schon darüber nachgedacht, dass ein freier Handel nur unter gleichstarken Partnern Sinn macht? Schwache brauchen Schutz. Oder geht es lediglich darum, neue Absatzmärkte zu erobern und das zarte Pflänzchen einer aufkeimenden Volkswirtschaft, etwa in Afrika, plattzumachen?
Drittes Beispiel: Auch im fernen Osten macht der Staat den Textilfabriken samt angeschlossenen Färbereien zur Auflage, Kläranlagen für die Abwässer zu bauen. Aber viel mehr Profit bringt es, so frei zu sein, die lästigen Umweltauflagen zu umgehen und die giftige Färbeflüssigkeit direkt in den Fluss zu lenken. Und der Verbraucher in Mitteleuropa freut sich über die herrlich – oder verdächtig? – billigen Schnäppchen.
Im Nu verstecken sich unter dem Ruf nach Freiheit Rücksichtslosigkeit, Ellenbogenherrschaft und Profitgier. Ist denn Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit "Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit" schon ganz vergessen? Oder Dietrich Bonhoeffer: "Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht." Heute sagen wir für Zucht Selbstbeherrschung. "So euch der Sohn freimacht, so seit ihr recht frei" – das lesen wir in der Bibel, Johannesevangelium Kapitel 8.
Dann wäre rechte Freiheit: Ich leide nicht länger an Minderwertigkeitsgefühlen, die durch Imponiergehabe ausgeglichen werden müssen. Ich habe mein Selbstwertgefühl im persönlichen Vertrauen, nicht im Sachbesitz. Ich nehme Rücksicht auf die Schwächeren. Ich verweigere mich nicht länger der verständigen Einsicht, was zum Wohle aller sein muss.
Der Mediziner, Musiker und Theologe hat bereits vor rund 100 Jahren die Spur ins Ökologische vertieft mit den sinngemäßen Worten: Gut ist, wenn ich dazu beitrage, dass jedes Lebewesen sich entfalten kann. Der jüdischen Philosoph Hans Jonas, fast noch unser Zeitgenosse, sagt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz (=Bestand) echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Ist es nicht höchste Zeit, anzudenken, aus welcher Quelle das Wesen wahrer Freiheit entspringt?
Martin Schaal, Pfarrer i. R., Seelbach
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.